Leseprobe 2

…Von Dr. Balde hörte ich lange Zeit nichts. Er hatte mit der ambulanten Behandlung zu tun. Aber im Spätherbst brachte mir die Stationsschwester Grüße. Es hieß, er habe eine Bleibe für mich gefunden.
Schuhe, Hosen, Wäsche, ein Mantel - aus Spenden füllte sich nun mein Spind. Schwester Hanne brachte Wolle vom Schwarzmarkt, die ich ihr von meiner ersten Kriegsopferrente bezahlte. Sie strickte mir einen Pullover; und weil ich nur einen Ärmel brauchte, blieb noch genug übrig für eine Mütze.
   Verschiebebahnhof, ging es mir durch den Sinn, als ich an einem Novembersonntag der fremden Frau durch die Eingangshalle des Krankenhauses folgte. Sie arbeite in der Wäscherei, hatte mir die Stationsschwester gesagt. Da ihr Heimweg sie in dieselbe Richtung führe, habe sie es übernommen, mich bei Frau Schöntube abzuliefern.
   Wortlos hatte sie ihren Rucksack mit meinen Sachen gepackt und sich an die Spitze unseres kurzen Zuges gesetzt; wer ließ sich schon gern mit einem Ungeheuer in der Öffentlichkeit blicken?
   Ich hatte nicht gefragt, wohin wir nun gingen, oder wie weit es überhaupt sei. Es war einerlei. Schließlich war mein Umzug auch nur wieder eine Verschiebeaktion - eine von vielen auf meinem langen Transport, der vor Monaten im Rückzugsgefecht an der Ostfront begann. Wie lange war der Waggon mit mir damals über die Schienen gerattert? Waren es Tage oder vielleicht Wochen? Manchmal stand er und ruckte mit einem erschreckenden, schmerzhaften Stoß wieder an. Wie oft hatte man mir gesagt, wir seien nun da? Dabei war es, wenn man ihn genauer besah, doch immer derselbe Ort voller Tragen, Krücken und Bahren. "Wo geht es denn hin?", hatte ich einmal eine Schwester gefragt, als sie mir zu trinken gab. Ich sah ihr Lächeln. Aber eine Antwort konnte sie mir nicht geben. "Wohin?", schrie ich in meinen Fieberträumen und schüttelte jeden, den ich zu fassen bekam. Wohin - irrte ich in meinen Gedanken? Wohin -, an dieser Frage arbeitete ich mich auf, bis mit dem Bewusstsein schließlich auch meine Verzweiflung schwand. Einmal, als ich aus der Ohnmacht erwachte, sah ich die Antwort ganz ruhig und klar: Ich hatte die falsche Frage gestellt. Meine Erkenntnis war so erleichternd wie lächerlich. Es gab nämlich kein Ziel. Es war keines mehr da. Wir hatten sie alle vernichtet. - Wir fuhren auch nicht, da war ich mir sicher. Wir wurden durchgerüttelt, doch blieben wir immer am selben Ort. Wenn ich von meinem Strohlager im offenen Güterwagen hinauf zu den vorbei gleitenden Sternen sah, wusste ich, dass sich unter mir genau so die Schienen bewegten -, ganz so, wie Monate später an jenem Novembersonntag auch meine Füße wieder unter mir liefen und es scheinen wollte, als käme ich fort. Nein, nein, ich blieb immer am selben Ort. Es gab keinen Weg mehr zurück in das Leben.
   Von Lazarett zu Lazarett - verschoben. Eins nach dem anderen. Eins wie das andere. Immer dasselbe - Lazarett. Lazzaretto. Der Abstand zu der Frau da vorne vergrößerte sich. Lazareto. Santa Maria di Nazaret - ich hatte doch einmal Geschichte studiert. Nur eine Verschiebeaktion, mehr nicht. Sie lohnte die Aufmerksamkeit nicht. Auch danach würde ich wieder nur vor der Tür des Lebens liegen. Aufbruch zum immer selben Ort? Wann endlich würde sich der Kreis für mich schließen?
   Trümmerhalden, Trümmerfelder. Ein paar Schornsteine ragten heraus, Brandwände, Häuserecken, vom Feuer geschwärzt. Weltenbrand, ja. Nur war in meiner Version auch von den Menschen keiner mehr übrig geblieben. Hier aber wanden sie sich, als seien sie an eine unsichtbare Kette geschmiedet, mit Kisten und Koffern beladen und Taschen, mit schwankenden Karren, zwei Kinder im Wagen, ein anderes auf dem Arm, hohläugig, stumm -, ein endloses Rinnsal schlängelte sich durch die verwüstete Welt.
   Entlassung in den Zusammenbruch…